Blutegeltherapie
Die Blutegeltherapie als ein so genanntes ausleitendes Heilverfahren ist in den vergangenen Jahren wieder Bestandteil unserer medizinischen Versorgung geworden. Seitdem Menschen einander heilen, spielen Blutegel [Hirudo medicinalis] eine fast immer bedeutende Rolle - allerdings sind die Blutegel in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa nahezu in Vergessenheit geraten. Das Wort "Egel" stammt aus dem Griechischen: echis = kleine Schlange. Manche vermuten sogar, dass die Schlange des Aeskulapstabes einen Egel darstellt, was aber tatsächlich die Äskulapnatter (Elaphe longissima) ist.
Die Blutegelwirkung beruht auf dem Bissreiz, den in die Bisswunde abgegebenen Wirkstoffen und Bakterien sowie der Nachblutung.
Der Egel sondert in die Bisswunde den Wirkstoff Hirudin ab, der die Blutgerinnung hemmt. Der Egel saugt etwa 10 ml Blut, und weitere 50 ml werden durch die Nachblutung ausgeleitet.
Der Blutegel
Der Blutegel, ein circa 5 cm langes, wurmartiges Tier, wird an die menschliche Haut angelegt und beißt sich dort fest, um sich von menschlichem Blut zu ernähren.
- Egel sind nicht gierig: eine Mahlzeit genügt für 1-2 Jahre (wer kann das schon von sich behaupten?).
- Sie besiedeln nur reinstes Wasser.
- Ihre Rückenzeichnung ist einmalig, und ihr eleganter Schwimmstil gleicht dem eines Delphins.
- Ihr Biss ist wenig schmerzhaft.
- Sie reinigen die von ihnen gesetzte, sternförmige Wunde.
- Ihre Speicheldrüsen sind frei von Krankheitskeimen.
Der Biss
Der Biss ist eigentlich ein Sägen: Drei sternförmig angeordnete Sägeleisten mit jeweils etwa 80 Kalkzähnchen raspeln sich vorsichtig durch die Haut, um zum Blut zu gelangen. Zwischen den Kalkzähnchen sind Öffnungen, durch die die Saliva, der Blutegelspeichel, abgegeben wird.
Der Biss eines Blutegels ist nicht schmerzhaft, denn der Egel hat in der freien Natur kein Interesse daran, überhaupt bemerkt zu werden. Ob zur Schmerzlinderung ein Anästhetikum im Speichel enthalten ist, ist umstritten. Der Biss eines Blutegels wird wie "Brennnesselstiche", "Mückenstiche", "ein leichtes Ziehen" oder "Einstiche von Injektionsnadeln" beschrieben.
Der Blutegelspeichel (Salvia)
Die Saliva enthält folgende bisher identifizierte Substanzen:
Hirudin (abgeleitet von Hirudo medicinalis = medizinischer Blutegel): sorgt für die Hemmung der Blutgerinnung. Bei dem ca. 30-minütigen Saugakt ist es notwendig, die Wunde offen und das Blut fließfähig zu halten.
Calin: hemmt ebenfalls die Blutgerinnung. Calin bewirkt nun im Anschluss an das "schnelle" Hirudin die etwa 12 Stunden dauernde Reinigung der Wunde durch Nachbluten. Es kommt zu dem bekannten, sanften Aderlass.
Einsatzgebiet der Blutegel
Die Blutegeltherapie wird vor allem in der plastischen Chirurgie hauptsächlich nach Replantation von Ohren, Fingern, Zehen oder Hautlappen und in der Unfallchirurgischen Versorgung zur Wiederherstellung der Durchblutung nach Haut- und Gliedmaßenverletzungen durchgeführt. Nach der Replantation von Gliedmaßen oder Hautlappen wird zwar die arterielle Versorgung mikrochirurgisch wiederhergestellt, der venöse Abfluss dagegen bereitet Schwierigkeiten. Es dauert gut eine Woche, bis die Kapillaren wieder von alleine nachsprießen. In dieser Zeit kann es infolge von Blutstauungen zu einer ungenügenden Blutversorgung der Kapillargefässe kommen, wodurch eine Gewebsnekrose eintreten kann. Durch den Einsatz des medizinischen Blutegels Hirudo medicinalis kann die venöse Stauung abgesaugt und das umliegende Gewebe gerettet werden.
Die Wirkung der Blutegelbehandlung beruht in der Hauptsache auf zwei entscheidenden Faktoren:
1. Die Hirudinwirkung
- gerinnungshemmend
- lymphstrombeschleunigend
- antithrombotisch
- gefäßkrampflösend
2. Die Wirkung des Blutentzugs
- allgemein erleichternd und beruhigend
- blutreinigend und entgiftend
- entzündungshemmend
- krampflösend
Die wichtigsten Heilanzeigen
Venenentzündungen mit Thrombosen, rheumatische Entzündungen, Gichtanfall, Stauungen in Venen und Lymphgefäßen, Arthrosen.
Die wichtigsten Kontraindikationen
Bluterkrankungen, Krampfaderknoten und Hauterkrankungen an den Applikationsorten.
Infektionsgefahr durch Blutegel
Krankheitsübertragung, Infektionsgefahr AIDS. Daher ist eine zweimalige Verwendung des Blutegels zu medizinischen Zwecken strengstens verboten.
Ablauf einer Blutegel-Therapie
Was geschieht bei der Blutegeltherapie?
Die Zahl der anzusetzenden Blutegel richtet sich nach dem Alter des Patienten, dessen Ernährungszustand und dem Krankheitsbild sowie der Häufigkeit der beabsichtigten Anwendung und der Grösse der Blutegel. Bei Kindern darf pro Lebensjahr höchstens 1 Blutegel angesetzt werden.
Die Blutegel werden an die Stelle, an der sie saugen sollen, angesetzt. Ein feiner stechender Schmerz und rhythmische Saugbewegungen zeigen an, dass der Biss stattgefunden hat und der eigentliche Saugakt beginnt.
Saugzeit
Die Saugzeit beträgt durchschnittlich je nach Grösse des Blutegels, seinem Hungerzustand und der Durchblutung der Saugstelle 15 bis 30 Minuten und kann bis zu 3 Stunden dauern. Wenn sich der Egel vollgesaugt hat, löst er sich von selbst ab. Der Blutegel sollte niemals gewaltsam entfernt werden, weil sein Kiefer in der Wunde verbleiben und dort Entzündungen verursachen kann. Statt dessen kann der Saugakt durch Betupfen mit Essig, Salz oder Alkohol unterbrochen werden.
Biologie
Blutegel sind Zwitter, zählen zu den Ringelwürmern [Annelida] und gelten als höherentwickelte Verwandte der Regenwürmer. Es gibt insgesamt 14 verschiedene Egelarten, von denen jedoch nur zwei - der Medizinische Blutegel [Hirudo medicinalis] und der Schildkrötenegel [Haementeria costata] - den Menschen unter Umständen befallen können.
Blutegel besitzen keine Verdauungsenzyme und halten das aufgesaugte Blut mit Hilfe ihres Speichelsekrets Hirudin monatelang flüssig. Damit sind beste Voraussetzungen für das Überleben von Erregertypen und die Übertragung von Krankheiten gegeben.
Zahlen
Der Egel erreicht im Ruhezustand eine Länge von 10-15 cm, bei völliger Streckung 25-30 cm. Seine Breite beträgt im Durchschnitt 1-2 cm. Der Rücken ist mit etwa 95 Ringeln deutlich gekennzeichnet, von denen die ersten 9 bis 10 dem Kopf angehören. Ein Blutegel besitzt insgesamt 10 schwarze Augen, die auf der Rückenfläche liegen.
Aussehen
Das Vorder- und Hinterende des Egels ist mit einem Saugnapf versehen. Die Mundöffnung besitzt 3 scheibenförmige, gesägte Kiefer, die eine y-förmige Wunde hinterlassen. In der Färbung sind die Tiere ebenfalls sehr variabel. Der Rücken ist dunkel olivgrün und der Bauch grüngelb gefärbt.
Lebensraum
Der Blutegel ist hauptsächlich in den Flusstälern Norddeutschlands zu finden und lebt vorwiegend in moorigen und sumpfigen Gewässern, aber auch in Überschwemmungstümpeln und pflanzenreichen Seen. Bedingt durch Umweltveränderungen und übermäßige Verwendung zu medizinischen Zwecken ist die Zahl der Blutegel in den letzten Jahren stark zurückgegangen.
Für den Einsatz in der Medizin werden hauptsächlich Blutegel verwendet, die gezüchtet werden.
Die Tiere werden in etwa 1m tiefen Teichen gehalten, deren Ufer mit feuchten Torf ausgelegt sind. Umgeben von einem Winterhaus erfolgt die Überwinterung in Holz- oder Zementbecken. Bei regelmäßiger Ernährung (z.B. mit Fröschen) kann ein Blutegel bis zu 20 Jahre alt werden.
Geschichte
Der Blutegel war schon den Naturvölkern bekannt und wurde bereits 100 Jahre vor Christus von dem griechischen Arzt und Dichter Nikandros von Colophon erwähnt und geschätzt. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurde der medizinische Blutegel [Hirudo medicinalis] bei verschiedenen Erkrankungen zum Aderlass eingesetzt, der sich als besonders wirkungsvoll erwiesen hat.
Dhanvantari, der indische Gott des Ayurveda, trägt einen Blutegel in einer seiner vier Hände. Im Englischen wurden die Heiler des Mittelalters als "leecher" [leech (engl.) = Blutegel] bezeichnet und bei den Germanen wurde das Wort "Blutegel" z.B. nahezu synonym mit dem Wort "Heiler" verwendet.
Blutegelmode
Die Verwendung von Blutegeln war im 18. und 19. Jahrhundert so in Mode gekommen, dass man von "Vampirismus" sprach und dass sogar die Ausrottung der Egel drohte. Nach einer ca. 100 Jahre dauernden Zwangspause (bis ~1975) - die durch die Folgen abusushafter Missbräuche im letzten Jahrhundert ("Vampyrismus"), mangelndes Wissen und Vorurteile begründet war - haben sie heute ihre "Approbation" als Heiler und als lebende Apotheken zurück. Seit 1949 werden der deutsche Blutegel und der Ungarnegel wieder gezüchtet und in Teichen gehalten, die der Lebensweise der Tiere angepasst sind.
Die rekonstruktive Chirurgie hat die sensiblen Blutsauger in den 80er Jahren wiederentdeckt, als das abgerissene Ohr eines kleinen Jungen nur durch ihre Hilfe wieder anwachsen konnte. Seitdem erleben sie eine Renaissance in der Heilkunst. Die moderne Biochemie hat so viele Wirksubstanzen und deren Wirkmechanismen im Blutegelspeichel aufgeklärt, dass die Vermutung, die Heilwirkung der Blutegel sei mittelalterlicher Aberglaube, selbst ins Reich des Aberglaubens fällt.